Das Kriegsende in Willebadessen (Diethard Freiherr von Wrede)

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Panzer in Willebadessen

Geboren wurde ich am 20. Mai 1930 im Schloss in Willebadessen. Meine Kindheit verlief ruhig und ohne Probleme. 1936 kam ich in die Volksschule (heute Grundschule) Willebadessen. Das Schulgebäude - heute Velcrea Seminarzentrum-war an der Stelle der alten Pfarrkirche errichtet worden. Der Schulhof war der alte Friedhof des Ortes, bis dieser an seine jetzige Stelle am Hoppenberg in der frühen 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verlegt wurde. Bei der Errichtung von Turngeräten auf dem Schulhof kamen Knochen der alten Willebadesser zum Vorschein, was uns Schulkinder begreiflicher Weise sehr aufregte. Im August 1939 fuhren wir alle in den großen Ferien außer meinem Bruder Fritz, der damals noch nicht geboren war, nach Warnemünde an der Ostsee. Uns begleitete auch unsere neue Erzieherin, Fräulein Wanda Lada. Dort trafen wir mit einer Schwägerin meiner Mutter mit ihren vier Kindern zusammen. Diese Ferien waren herrlich. Mich erregte es besonders, dass wir sogar für ein Glas klares Wasser bezahlen mussten.

Die Ferien wurden abrupt abgebrochen, da mein Vater wegen des nahenden 2. Weltkriegs einberufen wurde und wir schleunigst zurück nach Hause mussten. Da bereits das Benzin rationiert war, hielt mein Vater fast bei jeder Tankstelle, da diese nur maximal eine bestimmte Menge, ich glaube, es waren 10 Liter, abgeben durften. Auch fuhr mein Vater ökonomisch langsam, um Benzin zu sparen. Dieses verlängerte natürlich die Rückfahrt bedeutend. Auch meine Tante brach ihren Urlaub gleichzeitig ab, da sie als Holländerin noch vor Kriegsausbruch über die Grenze wollte.

Vom Krieg selbst bemerkten wir zunächst wenig. Die Autos wurden stillgelegt, auch der große „Wanderer" meines Großvaters. Es gab Kleider- und Lebensmittelkarten, aber das bedrückte uns Kinder wenig, denn wir litten ja keine Not. Mein Vater war Reserveoffizier des Reiterregiments Nr. 15 in Schloss Neuhaus, wo er als Rittmeister (Hauptmann), später Major, eingezogen wurde und als Kommandeur den „Heimatpferdepark" übernahm. Dieser sorgte durch Einzug bäuerlicher Pferde für den Pferdenachschub des Reiterregiments 15, schaffte diese zur Front und pflegte kranke und verwundete Pferde. Wir waren häufig in Neuhaus zu Besuch in der Wohnung meines Vaters, aßen mit Behagen Pferdewurst, besichtigten die Pferdeställe, die Schleppjagdmeute des Regiments und sonstige Einrichtungen. Besonderen Eindruck machte auf uns auch der jährliche „Tag der Wehrmacht" mit Waffenvorführungen. Da wir kein Auto mehr hatten, fuhren wir mit der Eisenbahn nach Paderborn und vom dortigen Bahnhof mit der „Elektrischen" nach Neuhaus oder in die Innenstadt. Auch das war jedes Mal ein Erlebnis. In Paderborn gingen wir häufig ins Kino, aber natürlich nur in die „Deutsche Wochenschau", die jedem Film vorgeschaltet war und die Ereignisse der Woche in Bild und Ton zeigte. Danach mussten wir dann wieder rausgehen, denn der Hauptfilm war natürlich für uns tabu. Nach dem Polenfeldzug im Herbst 1939 bis etwa Mai 1940 zum Frankreichfeldzug kam ein bespanntes Artillerieregiment ins Quartier nach Willebadessen. Die Offiziere wohnten z.T. im Schloss und die Mannschaften bei den Bauern im Dorf. Sämtliche freien Stall- oder Scheunenplätze waren mit Pferden belegt. So war vor allem das sogenannte, Ackerhaus", jetzt „Velcrea Seminarzentrum", voll mit Pferden. Da diese bewegt werden mussten, stellte der im Schloss wohnende Regimentskommandeur, ein Oberst, sie uns für Kutschfahrten mit einem Soldat als Kutscher und unseren Kutschen zur Verfügung. Für uns Kinder war das alles sehr interessant.

Panzer in Willebadessen

Auch kam ich als 10-jähriger zur Hitlerjugend, die auf dem Lande recht harmlos war. Wir waren stolz auf die Uniform: Braunhemd mit schwarzer Hose und schwarzem Halstuch mit braunem, geflochtenem Lederknoten, dazu Koppel und Schulterriemen. Unser „Dienst" bestand kaum in politischer Erziehung, vielmehr aus Sport und Geländespielen, was uns viel Spaß machte. Überhaupt berührte uns die nationalsozialistische Politik wenig. Wir waren nur erstaunt, als einmal in Verbindung mit dem nationalsozialistischen Erntedankfest auf dem Bückeberg bei Rinteln Adolf Hitler auf der Grevenburg bei Nieheim beim damaligen Regierungspräsidenten, Freiherr von Oeynhausen, dem Vater des jetzigen Eigentümers, weilte und wir vor unsern Eltern und Großeltern die Frage aufwarfen, wie toll das doch wäre, wenn „unser Führer doch auch einmal nach Willebadessen käme. Dieses Ansinnen wurde von beiden ohne weitere Begründung absolut abgewiesen. Ich verstand das damals nicht, weiß aber heute, dass die Erwachsenen vor uns Kindern äußerst vorsichtig mit Kritik am „Dritten Reich" sein mussten, weil Äußerungen über negative Einstellung der Eltern zu den braunen Machthabern in Schule und Hitlerjugend schwerwiegende Folgen haben konnten, da die Gestapo (Geheime Staatspolizei) nur darauf lauerte, solche Äußerungen mit Strafen bis hin zum KZ zu ahnden.

Zudem hatte mein Großvater damals einen durch und durch nationalistisch eingestellten Rentmeister, der solche Äußerungen gegen seinen Dienstherrn zu verwenden hoffte, um seine Stellung zu stärken. Er wurde im übrigen 1945 beim Einmarsch der Amerikaner verhaftet und in das „Umerziehungslager" Staumühle in der Senne gebracht, wo er zwei Jahre inhaftiert war. Nach seiner Entlassung wurde er auch nicht mehr eingestellt, da eine Reihe Tatsachen und Vorkommnisse sich mittlerweile herausgestellt hatten, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit meinem Großvater und Vater nicht mehr gestatteten. Eine weitere Begebenheit gab auch meinem Bruder Bob, der mittlerweile auch Hitlerjunge geworden war, und mir 1943 oder 1944 (HJ) veranstaltete damals an der Diemel in Warburg ein Lager, an dem wir beiden Brüder teilnahmen. Am Sonntag wurde uns Katholiken freigestellt, ob wir in die Kirche gehen wollten oder nicht., ,Ihr braucht nicht, denn auf einmal Fehlen kommt es nicht an". Das war für uns aus unserer häuslichen Erziehung heraus völlig neu und undenkbar und erregte unsere Opposition. Nun gerade! Sicher wären wir zu Hause geblieben, wenn diese Anregung von unsern Eltern gekommen wäre. So gingen wir aber geschlossen in HJ-Uniform unter Führung eines HJ-Führers in die Kirche nach Warburg. Dieser ging dann aber nicht auch hinein, sondern wartete, draußen auf der Mauer sitzend, auf uns. Auf meine etwas erstaunte Frage, warum er nicht mit in die Kirche gegangen wäre, erhielt ich eine ausweichende Antwort etwa in dem Sinne, er brauche das nicht und wünsche auch keine Diskussion darüber.

Ab 1943 griff dann auch der Krieg mehr und mehr auf unsere direkte Heimat über. Wir erlebten die Überflüge der riesigen Bomberschwärme. Am Radio hing eine Karte von Deutschland, mit einem Gitternetz versehen. Willebadessen lag im Abschnitt „Konrad-Theodor", und der Deutschlandfunk berichtete unter „Prima-Donna" über den jeweiligen Standort der Bomber und „Feindtätigkeit", also Bombardierung im Abschnitt X-Y, sodass man sich genau informieren konnte. Auch konnte man den Zeitpunkt des Luftalarms mit der Sirene auf dem Haus Kurzen voraussagen. Im Schloss wurden zwei, später drei Luftschutzkeller eingerichtet, da man von den alten Gewölben sich doch einen sicheren Schutz erhoffte.

Als Luftschutzkeller wurden der sogenannte „Kreuzgangkeller", zugänglich vom Kreuzgang her, der „Alte Weinkeller", zugänglich über Kreuzgang und alte Spülküche, sowie der „Apfelkeller", heute der südliche Teil der Sakristei im ehemaligen Kapitelsaal des alten Klosters, eingerichtet, wobei letzterer der Familie vorbehalten war, die beiden ersteren der Öffentlichkeit. Dabei wurden die Fenster mit stabilen, aus Eichenbohlen gefertigten und mit Sand gefüllten Kästen geschützt. Notausgänge wurden vorbereitet und ein eiserner Bestand an Lebensmitteln, vor allem Trinkwasser, und natürlich Verbandsmaterial, Taschenlampen usw. gelagert. Auf die Mauern gemalte weiße Pfeile wiesen auf die Fenster als Notausgänge hin, damit man sie leichter von außen finden konnte, falls das Schloss getroffen und die Fenster verschüttet würden.

Zahlreiche Bewohner der umliegenden Häuser aus dem Dorf - etwa 100 bis 150 Personen - suchten hier zunehmend mit der Aktivität der feindlichen Flieger und vor allem in der zweiten Märzhälfte und in den Ostertagen 1945 beim Einmarsch der Amerikaner und den damit verbundenen Kämpfen Schutz. Übrigens entstand im Hoppenberg mit Zugang durch den Weg unterhalb des Friedhofes und auf der Helle je ein Stollen, welcher von Pionieren in den Berg getrieben wurde. Er besaß drei Eingänge, die auch heute noch, wenn auch verschüttet, erkennbar sind.

Für uns war das natürlich spannend, zumal wir den Ernst der Lage nicht erkannten und es mehr als Spiel ansahen. 1943 kam ein Vetter meines Vaters, eine Familie v. Mallinckrodt, als Bombenflüchtling mit 6 Personen aus Bochum zu uns. Sie wurden, genau wie wir, im Haushalt meines Großvaters beköstigt. So war es ein riesiger Tisch im alten Esszimmer im Schloss. Bei Fliegeralarm, oft beim Abendessen, rannte alles in den Keller, nur wir Kinder blieben oben und labten uns an den streng rationierten Portionen der Erwachsenen, die diese ja nun doch nicht mehr aßen. So gab es weit mehr als die „fünf Erdbeeren", die uns an sich zustanden.
In der 2. Hälfte 1943 und erst recht 1944 und 1945 griff der Krieg auch nach Willebadessen. Den ersten Eindruck erhielten wir, als Kassel schwer bombardiert wurde. Über dem Paschenberg und Hoppenberg färbte sich der Himmel blutrot bei völliger nächtlicher Stille. Ein schaurig schöner Anblick, der uns tiefbewegte. Auch Paderborn wurde wieder bombardiert, und wir sahen doch die ersten zerstörten Häuser.

1943 fielen Bomben in die südliche Feldmark von Willebadessen, ohne Schaden anzurichten. Sie galten wohl dem Viadukt, dessen Zerstörung den Alliierten am Herz lag. Es waren mehrere Angriffe mit Bombeneinschlägen in der Weide am Teich, im Mühlenberg, Auf der Laube und an den Himmlischen Büschen. Der Abwurf einer nächtlichen Luftmine richtete ziemlichen Splitterschaden an den Fichtenstämmen am Schwarzen Teich an. Die Splitterschäden an den Bäumen machten noch lange nach Kriegsschluss viel Ärger, da die Stämme nach dem Einschlag mit elektronischen Geräten sorgfältig abgesucht werden mussten, um Schäden an den Sägen im Sägewerk zu vermeiden.
Eine Bombe fiel im Hellebachtal in die Ricke und verletzte den Forstlehrling Karl Eickhoff, - später Förster in Canstein -, welcher gerade auf dem Viaduktweg mittags auf dem Nachhauseweg war. Vermutlich ein hochgeschleuderter Stein traf ihn am Hinterkopf, Gott Dank, ohne durchzuschlagen. So konnte Eickhoff noch nach Hause laufen, hatte aber Zeit seines Lebens Kopfschmerzen und Schwindelgefühle.

Am 29.11.1944 fielen auch Bomben in den Ort Willebadessen im Bereich Alte Schulstraße. Dabei wurde das Eckhaus Hagemeier an der Kreuzung Wilhelmstraße/Alte Schulstraße völlig zerstört, und 8 Einwohner aus Willebadessen, davon 4 aus der Familie Hagemeier, wurden getötet, darunter ein Sohn, der als Soldat gerade in Urlaub zu Hause weilte. An anderer Stelle wurde eine im Stall an ihren Futtertrog angekettete Kuh hoch in die Luft geschleudert und hing tot in den abgedeckten Dächern der Nachbarhäuser. Ein wenig schöner Anblick! Wir Hitlerjungen wurden eingesetzt, um mit Anreichen der Dachpfannen die Dachdecker zu unterstützen, die möglichst rasch versuchten, die Dächer über den Heu- und Strohvorräten wieder einzudecken. Dieser Angriff wurde im übrigen auch im Radio von „Prima-Donna" gemeldet: „Feindtätigkeit im Raum Konrad-Theodor". Dazu kamen Jagdbomber-Angriffe auf Züge, wobei ein Jagdbomber einmal seine abgeschossenen Hülsen über dem Kutscherstall abwarf, die natürlich von uns alle aufgesammelt wurden. Wir drei älteren Kinder gingen mittlerweile in die Realschule zu Peckelsheim, und da kein Bus mehr fuhr, brachte uns ein alter Landarbeiter per Kutsche hin. Die zunehmende Tieffliegertätigkeit nötigte uns auch zur Vorsicht, und so saß einer von uns neben dem Kutscher und passte auf, ob irgendwo Fliegergeräusche zu hören waren. Kam es dazu, sprang alles in den Straßengraben. Es passierte aber Gott Dank nie etwas.
Im Februar 1945 kam ein Vetter meines Vaters aus Oberschlesien, Graf Praschma, mit Frau und zwei Kindern, damals 4 und 2 Jahre alt, via Corvey mit einem Treckwagen und zwei Pferden an. Sie waren aus der Gegend von Oppeln, wo mein Onkel als Forstmeister das staatliche Forstamt Illnau verwaltete, mit Pferdewagen vor den herannahenden russischen Soldaten geflohen, hatten aus der Nähe die verheerende Bombardierung von Dresden erlebt, hatten auch in Glauchau in Sachsen Rast gemacht und waren schließlich in Corvey gelandet. Ihre Treckgeschichten bewegten uns tief, vor allem allein schon der Gedanke, über mehr als tausend Kilometer mit dem Pferdewagen mit zwei kleinen Kindern im Winter über das verschneite Riesengebirge nach Westen zu fahren. Zudem war mein Onkel schwer kriegsversehrt. Ihm fehlte im linken Oberarm ein Stück Knochen, sodass er den Arm in der Schlinge tragen musste. Mein Vater war auch mittlerweile aus Altersgründen aus der Wehrmacht entlassen, nachdem er vorher von Schloss Neuhaus in gleicher Funktion (Heimatpferdepark) nach Aachen versetzt worden war. Er weilte zu Hause, was sich bei den kommenden kriegerischen Ereignissen als sehr segensreich erwies. Aufsehen erregten in den letzten Wochen des März noch lange Kolonnen von Zwangsarbeitern oder Häftlingen vieler Nationen, die, bewacht von SS-Soldaten, gegen Osten getrieben wurden, um sie nicht in die Hände der Westalliierten fallen zu lassen. Es waren erbärmliche Gestalten, die zum Teil hier eine wässrige Suppe mit trockenem Brot erhielten. Die Bauern mussten anspannen und mit ihren Wagen die nicht mehr Gehfähigen oder auch die Gesunden weitertransportieren. Das wurde gerne befolgt, denn niemand wollte diese Völkerscharen beim absehbaren Zusammenbruch im eigenen Ort haben und tat daher alles, um sie rasch möglichst wegzubekommen.

Wir Kinder fuhren nicht mehr nach Peckelsheim zur Schule, sondern wurden in der hiesigen Grundschule - heute „Velcrea Visavis" - von Lehrern unterrichtet, die zu dem Zweck für einige Stunden mit einem Auto von Peckelsheim nach Willebadessen gebracht wurden. Ostern fiel 1945 auf den 1./2. April. Die Osterferien begannen auf Grund der militärischen Lage bereits Mitte März. Die amerikanischen Truppen hatten nämlich über die berühmte Brücke bei Remagen den Rhein überschritten und befanden sich im zügigen Vormarsch nach Osten. Die britischen Truppen hatten bei Wesel den Rhein überschritten und rückten ebenfalls zügig gen Osten vor. Beide Alliierten beabsichtigten, in unserm Raum den großen Ruhrkessel um das Ruhrgebiet zu schließen. So kamen die Amerikaner von Süden über Marburg/Korbach, die Engländer über Osnabrück/Bielefeld auf uns zu. Ende März war es dann soweit. Wir hörten Kanonendonner aus Süden von Kämpfen um Warburg und Scherfede. Landrat des Kreises Warburg war damals Admiral Bachmann. Infolge der Kämpfe um Warburg hatte er sich in den Nordkreis zurückgezogen und weilte auch in Willebadessen. Sein ganzes Gepäck mit der Admiralsuniform war verlorengegangen. Er trug deshalb Zivil, wollte aber als Soldat Uniform tragen. Er versuchte, meinen Vater zu bewegen, sich ihm anzuschließen, was aber unter dem Einfluss meines Onkels Praschma Gott Dank verhindert wurde, der meinem Vater überzeugend darlegte, dass der Krieg so oder so verloren und in wenigen Tagen oder Wochen beendet sei, unabhängig davon, ob mein Vater noch mitmachte oder nicht. Er hätte vielmehr hier in Willebadessen in Zukunft eine weit wichtigere Aufgabe in der Zeit nach dem Dritten Reich. Der Admiral lieh sich dann die Majors-Uniform meines Vaters und zog diese mangels Admirals-Uniform an und verließ unser Haus. Mein Onkel rettete damit wahrscheinlich das Leben meines Vaters, denn bei der Besetzung von Willebadessen am 1. April 1945 durch die Amerikaner wurde das Auto des Admirals auf der Straße nach Altenheerse unter dem Schieisenberge von einer Pak-Granate getroffen, wobei alle Insassen, auch der Admiral, ums Leben kamen.

Wie oben erwähnt, besetzten die Amerikaner, von Helmern kommend, ohne Widerstand am 1. April - Ostersonntag - Willebadessen. Wir sahen die ersten amerikanischen Soldaten nach Überklettern der Klostermauer am Grundstück Klosterhof 6. Mein Vater und mein Onkel Praschma gingen ihnen mit weißen Tüchern entgegen, um sie zu überzeugen, dass keine deutschen Truppen mehr im Schlossbereich waren. Dabei wurden beide ihre Armbanduhren los, denn aus mir unbekannten Gründen bestand eine große Vorliebe der Amerikaner für Uhren jeglicher Art. Sonst geschah ihnen nichts.

Deutsche Truppen - meist SS-Verbände - lagen aber noch in der Egge und im Raum Neuenheerse, von wo aus sie in den frühen Morgenstunden des Ostermontags einen Angriff auf Willebadessen machten. Sie stießen auch bis zur Ortsmitte vor, mussten sich dann aber unter schweren Verlusten zurückziehen. Sie ließen viele Gefallene im Ort zurück und 6 oder 7 abgeschossene Tigerpanzer, die noch lange im Ort standen. Auch waren Gebäudeschäden zu beklagen und vor allem auch Menschenverluste, als am Haus Gelhaus in der Bahnhofstraße ein Schützenpanzer abgeschossen wurde und brennendes Benzin in den Keller lief, wo sich die Bewohner geschützt wähnten, aber so getötet oder schwer verletzt wurden. Fast alle Feldscheunen in der Ostgemarkung brannten ab, so auch die Feldscheune des Gutes, die an der Stelle des heutigen Reifenhauses Lumpp stand. Sie wurde nicht wieder aufgebaut.
Auf dem Gutshof wurde der Schweinestall von einer Granate getroffen, die ein mannsgroßes Loch in die Mauer zum Runkelkeller riss, aber sonst keinen Schaden anrichtete. Eine weitere Granate traf den Dachfirst der neuen Scheune und deckte das Dach zu einem Drittel ab. Diese Granaten hatten wohl sogenannte Aufschlagzünder, die bei der geringsten Berührung von Gegenständen explodierten, ohne durchzuschlagen. So waren die Schäden relativ gering. Wir verbrachten die Tage im Apfelkeller auf Matratzen auf den Regalen, wo sonst die Äpfel lagen. Sobald es ruhig wurde, gingen wir auch nach oben, wobei es uns besonders beeindruckte, dass im Kreuzgang ein amerikanischer Verbandsplatz eingerichtet war, wo Verwundete behandelt wurden, und oben im sogenannten „Entree" auf einem „geheiligten" Mahagonitisch ein schweres Maschinengewehr der Amerikaner stand und Richtung Bahnhof durch das Fenster drohte. Im Dorf beeindruckte mich besonders ein abgeschossener Tigerpanzer an der Ecke Lange Straße/Kurze Straße. Zwei Besatzungsmitglieder konnten sich retten, fielen dann aber in der Langen Straße in der Nähe ihres Panzers. Als wir dort vorbeikamen, hatte man ihnen die Schuhe ausgezogen, weil das damals ein begehrtes Gut war. Im Panzer selbst waren weitere Besatzungsmitglieder verbrannt. Bei der späteren Fronleichnamsprozession segnete unser Pfarrer den Panzer als zunächst letzte Ruhestätte der gefallenen Soldaten. Alle im und um den Ort Gefallenen wurden zunächst auf unserm Friedhof begraben, später aber umgebettet und entweder in ihre Heimatorte oder auf spezielle Kriegerfriedhöfe überführt. Die amerikanische Artillerie belegte in den folgenden Tagen den gesamten Osthang der Egge mit Artilleriefeuer, um die dort noch vermuteten deutschen Truppen zu vertreiben. Unter den Folgen leiden wir und die Weichssens in Borlinghausen noch heute, da immer wieder Granatsplitter in den Buchen des Rixerbruchs und des angrenzenden Teutoniawaldes auftauchen. Unsere treu gehüteten und gepflegten Gewehre mussten wir restlos abgeben. Sie wurden zerschlagen oder von einem Panzer zerfahren. Den Versuch, sie irgendwo zu verstecken, wagten mein Großvater und Vater nicht, denn es stand Todesstrafe auf den Besitz von Schusswaffen. Damit war es mit der Jagd auch erst einmal vorbei.

Die folgenden Wochen verliefen relativ ruhig. Die Front war weitergezogen, die Verdunkelung aufgehoben, nur fuhren von Zeit zu Zeit lange Kolonnen amerikanischer Truppen durch den Ort gen Osten und wurden von uns bestaunt. Lebensmittel waren streng rationiert. Jeder von uns bekam zum Wochenanfang auf einem Teller mit Namen seine Butterration für die Woche zugeteilt und musste damit auskommen. Oft sparten wir die Woche über und machten dann am Sonntag „Ami-Verpflegung", indem wir sie richtig dick aufs Brot schmierten. Dazu gab es selbst gepresstes und gekochtes Rübenkraut aus Zuckerrüben, die man sich in der Börde besorgte. Nebenbei sah man zu, dass man von den im Ort verbliebenen Amerikanern Wurst und Rindfleisch in Dosen (Corned Beef) bekam, was diese großzügig verteilten. Zu diesen Schätzen gehörte natürlich auch Weißbrot und Schokolade. Überhaupt waren die Amerikaner sehr freundlich und hilfsbereit, wenn auch ein „Fraternisations-Verbot" bestand, also ein Verbot, mit der Bevölkerung privat zu verkehren.

Im Sommer 1945 wurde das Schloss von den Amerikanern als Kaserne beschlagnahmt, und wir mussten es in kurzer Zeit verlassen. Meine Großeltern zogen in das Rentmeisterhaus, heute Zahnarztpraxis, meine Eltern mit uns in die Arbeiterwohnung oben im Kutscherstall, die Mallinckrodts in das Haus des Stellmachers Böhmer an der Borlinghauser Straße und Praschmas zum Gemeindeforstamt, wo Onkel Praschma provisorisch die Geschäfte führte, da der amtierende Forstmeister Grüne noch in Gefangenschaft war. Nach den nur kurz im Schloss bleibenden Amerikanern kamen an sich sehr nette polnische Offiziere aus dem aufgelösten Kriegsgefangenenlager Dössel. Sie wollten nicht mehr in ihre nunmehr kommunistische Heimat Polen zurück, sondern warteten auf ihre Ausreisegenehmigung nach den USA. Viele stammten auch aus den von Russland annektierten polnischen Ostgebieten und hatten im 1. Weltkrieg als k.u.k.-Offiziere im österreichischen Heer gekämpft und sogar deutsche Orden, wie das „Eiserne Kreuz", erhalten. In ihrer Heimat wären sie allesamt nach Sibirien deportiert worden. Als diese dann auch wegzogen, kam englische Einquartierung, denn mittlerweile war die von den Alliierten festgelegte Zoneneinteilung vollzogen worden, und wir wurden britische Zone. Diese Truppen waren eine Strafkompanie und dementsprechend schlecht aufgelegt. Ihre Aufgabe bestand im Holzeinschlag als Reparationsleistung für durch deutsche Einwirkungen entstandene Schäden in England. Sie fällten die wohl sehr schönen 100-jährigen Fichten im Röhrkeksbusch rechts und links der Kleinenberger Straße, heute Abt. 35A und 37A, sowie im Lichtenauer Gemeindewald an der Lichtenauer Straße. Interessant waren für sie nur Bestände an festen Wegen. Unerschlossene Bestände blieben verschont. So wurde in Marschallshagen kein einziger Stamm geschlagen, da das damalige Wegenetz miserabel war und der Inspektionsjeep der Engländer sich mehrmals total festfuhr. Überhaupt waren die Verhältnisse auf den Einschlagsflächen katastrophal. So schlugen sie die Bäume in Hüfthöhe ab, weil das bequemer war, und als unser neuer Förster Richter dabei einschreiten wollte, wurde er des Schlages verwiesen. Es war an der Straße eine Rampe gebaut worden, von der die Stämme auf LKW verladen wurden. Mit Raupenschleppern wurden die Stämme an die Rampen geschleppt und waren dort nachts eine bequeme Beute für die Bauern, die mit dem Holz ihre Feldscheunen und beschädigten Häuser aufbauten. Uns war das egal, denn bezahlt wurde das Holz so oder so doch nicht, und seine Verwendung war so besser, als wenn es nach England ging, wo eh nur ein geringer Teil ankam, weil der größere Teil unterwegs in dunklen Kanälen verschwand. Im Schloss entstand natürlich an den verbliebenen Möbeln ziemlicher Schaden. Vor allem litt das schöne Parkett im Saal links vom Haupteingang, da die Putzfrauen es mit viel Wasser munter scheuerten, um den Dreck der Soldatenstiefel zu entfernen. Es musste später restlos abgeschliffen werden, wodurch die einzelnen Holzplättchen so dünn wurden, dass sie sich lockerten. Die Stufen der Haupttreppe im Schloss litten ebenfalls durch die Soldatenstiefel, was auch heute noch zu sehen ist.

Auch wurde die wertvolle Tischwäsche der Familie mit Wappen entwendet, da es uns nicht gelang, diese rechtzeitig in Sicherheit zubringen. Im Sommer 1946 zogen die Engländer ab und wir wurden wieder Herren über das Schloss. Es bestand aber wegen der vielen Bomben- und Ostflüchtlinge eine Wohnraumbewirtschaftung, bei der pro Hausbewohner nur eine bestimmte Quadratmeterzahl an Wohnraum genehmigt wurde. Da die Familien Praschma und Mallinckrodt nun nicht mehr im Schloss wohnten, ergaben sich Probleme. Nun war mittlerweile ein Landrat, Dr. Ortner, in Warburg als Kreischef eingesetzt worden, zu dessen Mitarbeitern als Flüchtlingskommissar ein Baron Friedrich-Wilhelm von Buchholtz gehörte. Er war als gebürtiger Balte über Ostpreußen durch die Kriegswirren nach Drankhausen bei Schweckhausen verschlagen worden. Seine zwei Schwestern, Anni von der Groeben aus Ostpreußen und Elisabeth von Klinggräff aus Mecklenburg, beide Kriegerwitwen aus dem Polenfeldzug 1939, lebten mit ihrer alten Mutter und zahlreichen Kindern in Schleswig-Holstein, wohin sie das Flüchtlingsschicksal getrieben hatte. Baron v. Buchholtz suchte nun nach einer Möglichkeit der „Familienzusammenführung" und wurde von Dr. Ortner, der mit meinen Eltern befreundet war, auf Willebadessen aufmerksam gemacht und kam sich vorstellen. Er wurde von meinen Großeltern mit offenen Armen aufgenommen, da es besser schien, eine einzige große Partei aufzunehmen als mehrere kleine, zumal die sanitären Verhältnisse auch darauf nicht eingerichtet waren.
Diese Familien kamen mit 29 Personen, Erwachsene und Kinder, zu uns und richteten als Existenzgrundlage eine Heimarbeitswerkstatt ein. Wir verstanden uns sehr gut, denn auch die Kinder waren in unserem Alter. Da sie evangelischer Konfession waren und auch im Ort zahlreiche evangelische Christen als Ostflüchtlinge wohnten, ergab sich die Notwendigkeit eines evangelischen Gottesdienstraumes. Da Versuche, die Gottesdienste in der katholischen Pfarrkirche abzuhalten, von beiden Seiten als nicht ideal empfunden wurden, stellte mein Großvater ihnen den Kreuzgang zur Verfügung, bis in späteren Jahren eine evangelische Kirche in der neuen Siedlung an der Bahnhofstraße gebaut wurde.

Nachdem mit der Währungsreform 1948 der Heimarbeitsbetrieb unrentabel wurde, suchten und fanden unsere Flüchtlinge neue Existenzen oder kamen in das Alter der speziellen Berufsausbildung mit anschließender Anstellung. So verringerte sich diese Gruppe bis auf wenige Personen, die dann bei meiner Heirat im Jahre 1958 endgültig zu ihren mittlerweile auch verheirateten Kindern zogen. Damit endete für mich die Zeit des Dritten Reiches mit ihrer Folgezeit. Für uns Kinder, als Landkinder, die wir ja nichts anders kannten, war es im Gegensatz zu unsern Großeltern und Eltern und auch in Gegensatz zu unsern Altersgenossen in den zerbombten Städten oder auf den Trecks vom Osten her eine Zeit großer Abenteuer. Wir litten keine direkte Not, wussten uns zu helfen, und mit der nationalsozialistischen Ideologie wurden wir auch kaum befasst. Beim Lateinunterricht in der Schule beim Lesen von Caesars „De Bello Gallico" begleitete der Lehrer die Schilderungen Caesars über seine Methode der Kriegsführung mit der „Übersetzung" ins Moderne, wie wohl Caesar heute seinen Gallischen Krieg geführt hätte, was uns ungemein interessierte. Wir trugen damals stolz die HJ-Uniform und trieben Sport, machten sogenannte Geländespiele und nahmen am jährlich einmal stattfindenden Lagerleben teil, ohne viel an Ideologie zu denken, sodass diese Zeit für mich durchaus eine schöne Zeit war. Gewiss wäre es anders geworden, wenn ich, wie viele der nur wenig Älteren, zuletzt noch zur Wehrmacht eingezogen worden wäre. Aber das hat ein gütiges Schicksal verhindert.

Aus dem Buch: Das Kriegsende in Willebadessen von Willi Sasse und Waldemar Becker